Burhan Sönmez hätte seinen neuesten Roman „Labyrinth“- der nun auf Deutsch erschien - eigentlich auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt, die jedoch auf Grund der Pandemie abgesagt werden musste. Anlässlich der deutschen Veröffentlichung und unter Berücksichtigung der aktuellen Lage sprachen wir in einem Video-Chat über das Werk „Labyrinth“. 

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe röportajımızı Almancaya çevirdi.

Fotocredit: Luay Albasha

S: In einem Interview auf der Website interview sagten Sie, Sie möchten die Dinge in Ihrem Roman Labyrinth im Geist von Camus und in der Sprache von Borges angehen. Was bedeutet der Geist von Camus für Sie?

B: Beim Romanschreiben sind wir im Geiste mit bestimmten Schriftsteller*innen beisammen. Das Narrativ eines Romans, seine Erzählstimme, seine Gemütslage kommunizieren mit ihnen. In Labyrinth herrschte, wie im vorangestellten Motto angedeutet, zunächst Borges’ Stimmung vor. Beim Schreiben aber spürte ich, dass zugleich Camus und einige weitere Schriftsteller*innen der Sprache und dem Geist der Geschichte entsprechen. Es ist keine eins zu eins Übereinstimmung oder ein direkter Bezug auf sie. Vielmehr gibt der Autor damit einen Hinweis auf seinen Schreibprozess. Im Text wird das vielleicht gar nicht deutlich. Doch als vor allem in Rezensionen in den USA Bezug auf Camus genommen wurde, fühlte auch ich mich ermutigt, mich auf Camus zu beziehen.

In der dramatischen Geschichte eines Individuums die gesamte Epoche zu sehen, gehört meines Erachtens zu den Haupteigenschaften von Camus. In dieser Hinsicht kann ich als Autor des Buches zumindest mir selbst sagen, in Labyrinth ist Boratins Geschichte von Camus’schem Geist.

Labirent Mart başında Random House’un BTB alt markası tarafından yayınlandı. Burhan Sönmez’in kitapları kırk iki farklı dilde okunabiliyor.

S: Beim Lesen trieben mich folgende Fragen um: Was ist der Mensch? Was sagen seine Erlebnisse, seine Geschichte, das, was ihn an diesen Punkt geführt hat, über ihn aus? Worauf gründet er sich? Über das grundsätzliche Hinterfragen der menschlichen Existenz hinaus dachte ich auch über das Gedächtnis der Gesellschaft nach. Dass Boratin nach dem Selbstmordversuch weiterleben kann, ist vielleicht auch seinem Gedächtnisverlust geschuldet. Wie sein Freund Efendi sagt, ist genau das womöglich sein Glück. Dass er seine Ex-Freundin nicht wiedertreffen will, liegt an seiner Angst vor Konfrontation: „Was, wenn ich sie verletzt habe?“ Es heißt oft, wir seien eine Gesellschaft ohne Gedächtnis. Warum aber ist erinnern so wichtig? Wenn wir vergessen, sind die Schandtaten ja nicht ausgelöscht, oder?

B: Angeblich vergessen wir neunzig Prozent dessen, was wir im Laufe eines Tages erleben. Wir erinnern uns nur an sehr wenig. Das Bewusstsein und der Geist des Menschen sind für das Vergessen prädestiniert. Auch Gesellschaften sind dafür prädestiniert und vergessen einen großen Teil der Vergangenheit. Was sie zu vergessen versuchen, sind zum großen Teil vor allem ihre Schandtaten. Die Verbrechen, die Massaker, die sie begangen haben, die schlimmen Ereignisse. Gesellschaften wollen sich nur an die guten Seiten der Vergangenheit erinnern, an ihre Heldentaten, an Ereignisse, auf die sie stolz sind. Ebenso der Mensch. Seine Fehltritte will er vergessen. Das gelingt uns zum Teil, zum Teil aber auch nicht, aus so etwas werden dann lebenslange psychologische Obsessionen. Boratin spürt das unbewusst. Wenn es etwas wie Vergangenheit gibt, dann sind es zweifellos Fehler und Schandtaten. Was habe ich mir wohl in der Vergangenheit zu schulden kommen lassen? Die Frage führt bei ihm zu Ängsten. Er hat das Gefühl, für einen guten Neuanfang müsse man sich vollständig von Vergangenheit befreien. Ob sein Gefühl richtig ist oder nicht, ist eine andere Sache, doch ich glaube, auch die Gemütslage von Gesellschaften tendiert in diese Richtung.

S: Auch unser Alltagsleben gestaltet sich ja ein bisschen in dieser Weise, lebe den Augenblick, guck Netflix, entspann dich. Derzeit stecken wir in einer globalen Krise. Als Menschen, die das Glück haben, zu Hause bleiben zu können, merken wir, wie arg uns der Kapitalismus eigentlich zusetzt. Ein wenig Innehalten hat bereits dazu geführt, dass die Luft in Istanbul um dreißig Prozent sauberer ist. Dabei ist dies weder die erste Epidemie noch die erste Krise. Sorgen solche Krisen dafür zu vergessen, dass der Kapitalismus weitermachen kann? Warum ziehen wir keine Lehren daraus?

Große Krisen allein verändern die Gesellschaft nicht. Große Krisen bieten lediglich die Chance, die Gesellschaft zu verändern. 

Die Frage ist, ob wir imstande sind, diese Chance zu nutzen. Wie du sagst, es gibt ständig Krisen auf der Welt. Erst vor zehn Jahren wurden sämtliche Volkswirtschaften durch die von Europa ausgehende Hypothekenkrise erschüttert. Vor achtzig Jahren hatte der Faschismus ganz Europa im Griff, was ist die Folge, heute sind vielerorts Rechtsfaschisten an der Macht. Epidemien wie die aktuelle gab es im letzten Jahrhundert immer wieder. Dennoch fängt die Menschheit immer wieder von vorne an. Sie ist immer wieder mit derselben Art von Politik, mit denselben Methoden der Lenkung von Gesellschaften konfrontiert. Dafür gibt es zwei Gründe, die wir alle auswendig kennen. Erstens, die Herrschaft liegt stets in der Hand der Mächtigen und die Mächtigen sind Leute, die sich das in negativem Sinn zu Nutze machen. Es sind populistische Politiker und Großkapitalisten. Kürzlich stand es zur Erinnerung wieder einmal in den Zeitungen: Acht Personen besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen. Wer könnte sagen, wir hätten je aus der Geschichte gelernt? Man sagt, Geschichte sei der beste Lehrer. Dann haben wohl diese acht Personen ihre Geschichtslektion besonders gut gelernt, so dass sie über uns faule Schüler herrschen. Der zweite Faktor, den ich erwähnt habe, ist, dass die breiten Massen, also die Normalbürger*innen nicht zu einem gemeinsamen Bewusstsein kommen, nicht in der Lage sind, zur Genüge gemeinsame Handlungsmodi zu entwickeln. Blicken wir auf die Türkei, Journalisten werden eingesperrt, die Gesellschaft schaut zu. Millionen Menschen hungern, die gesamte Gesellschaft, die ganze Welt schaut zu. Schauen wir auf die Kriege, der Nahe Osten ist von einem Höllenfeuer erfasst. Die Menschen schauten bloß zu. Allein in Syrien verloren über zehn Millionen Menschen ihr Obdach, vor allem, weil die westlichen Länder den Krieg dort unterstützen. Sie haben Waffen und Soldaten geschickt, dann schlossen sie ihre Grenzen für syrische Flüchtlinge und schauten zu, wie sie im Mittelmeer ertranken. Wer hat nun hier aus der Geschichte gelernt? Wir sind gezwungen, an Marx zu erinnern, der sagte, die Geschichte wiederhole sich. Sie wiederholt sich tatsächlich, und zwar auf infame Weise.

S: Und in Zyklen. Diese zyklische Zeit findet sich sowohl in Istanbul Istanbul wie auch in Labyrinth. Als ich Labyrinth durchgelesen hatte, blätterte ich zu dem Zitat am Anfang zurück. Sie haben ein Zitat von Borges vorangestellt: „Zwei opponierte Spiegel reichen aus, ein Labyrinth zu erschaffen.“ Wenn Boratin in den Spiegel schaut, sieht er sein Abbild, doch was das Abbild im Spiegel sieht, ist Leere. Es ist nicht klar, wer wen anschaut. Und was ist das Labyrinth?

B: Ein Element unterscheidet die Literatur früherer Epochen entscheidend von der heutigen.

Früher musste man in die Welt hinaus, um die Welt zu begreifen. Heute dagegen muss man zu sich selbst zurück, muss auf sich selbst schauen. Früher begann in Büchern das Abenteuer damit, dass man eine Reise antrat. Man reiste weit, sammelte Geschichten, erlebte Geschichten und kehrte heim.

Heute dagegen braucht man nirgendwo hinzugehen. Hat man in einem Raum einen Spiegel, schaut man sich an, man kann bei sich selbst verweilen, das reicht völlig. Der zeitgenössische Mensch, der globale Mensch ist ein Mensch, der über die Weltkultur verfügt. Telefon, Computer, Fernsehen, Bücher haben den heutigen Menschen zu einem Menschen gemacht, der die Welt in der Hand hält. Vielleicht handelt es sich nicht um tiefgehende Kenntnis, doch die Welt ist entdeckt, sie ist ein Ort, deren Grenzen erreicht sind. Sie ist nicht mehr wie früher, wo es unbekannte Stellen gab, wo man die Ozeane befuhr und neue Länder entdeckte. Die Welt ist heute wie in Shakespeares berühmten Spruch: The World is my OysterDie Welt ist meine Auster. So empfinden es die Menschen. In diesem Moment halten wir die Welt in unserer Hand. Darum kann jemand von seinem Twitter-Account aus es mit der ganzen Welt aufnehmen und darin Befriedigung finden. In dieser Hinsicht befinden wir uns an einem Punkt, wo das Individuum extrem auf sich selbst zurückgeworfen ist.

Jetzt drehen wir uns im Übermaß um uns selbst und haben unsere eigene Existenz zum einzigen Zweck und Ziel gemacht.

Wir stehen an einem kritischen Punkt. Die sozialen Medien, die modernen Kommunikationsmittel sind in dieser Hinsicht eine Chance, andererseits aber sind sie offen für Manipulation, können leicht dazu benutzt werden und uns zu Hause mit unseren Telefonen einsperren.

Wie ist nun das zu verstehen, was wir Labyrinth nennen? Das Labyrinth hat viele Eigenschaften, Borges hat viel dazu geschrieben. Meine maßgebliche Definition lautet: Befinden wir uns mittendrin, ist uns nicht möglich zu erkennen, dass wir in einem Labyrinth sind. Um das zu erkennen, müssen wir das Labyrinth verlassen. Und wenn wir uns heute zu stark auf uns selbst beziehen, verlieren wir die Möglichkeit, aus dem Labyrinth auszusteigen. Um das Labyrinth im Ganzen zu sehen, müssen wir sowohl auf uns selbst schauen können, aber zugleich auch auf die anderen und das Draußen. Denn solange wir das Labyrinth nicht sehen können, können wir uns selbst nicht vollkommen verstehen. Der Mensch ist nicht länger nur ein Wesen, er existiert auch durch seine Position. Eine der Nebenfragen, die die Frage, was ist der Mensch, in der Moderne mit sich bringt, lautet: „Wo steht der Mensch?“ Wo steht er räumlich, moralisch, philosophisch, politisch, physisch? Das Labyrinth ist ein Ort, der dies alles umfasst. Aus diesem Grund kann das Labyrinth, wie es sich als Geschichte eines Individuums erweisen kann, wenn Metaphern wie Spiegel und Uhr zusammenkommen, auch zur politischen und philosophischen Diskussion über die Welt werden.

S: Beim Zuhören ist es mir jetzt wieder aufgefallen: Sie sind auch mündlich ein hervorragender Erzähler, aber was Sie vor allem tun, ist schreiben. In Ihren Romanen klingt immer auch die Bedeutung des Geschichtenerzählens an, darin drückt sich Texten gegenüber eine ablehnende Haltung aus.

Im Grunde steht hinter jedem Schriftsteller der Schatten eines anderen, der er nicht zu werden vermochte.

B: In unserer Familie ist vor allem meine Mutter die Erzählerin. Sie ist eine fantastische Erzählerin, eine kurdische Ependichterin, dengbêj nennen wir das. Sie ist nicht alphabetisiert. Sie war stets mein großes Vorbild. Sie erzählt, weil sie nicht schreiben kann. Mir war zum Erzählen das Schreiben lieber, weil ich es beherrsche. Schrift ist das Hauptkommunikationsmittel unserer Zeit. Mit jeder Generation nimmt die Funktion mündlicher Dialoge weiter ab. Die modernen Zeiten lassen sie kaum noch zu. Hasten wir nach der Arbeit nach Hause, bleibt uns wenig Zeit, um unsere Familien, Partner*innen, Freund*innen zu sehen. In einer solchen Epoche hat das Wort kaum noch etwas zu sagen.

In einer derart rasanten Transformation fragen wir uns nicht, was ist die Bedeutung des Wortes mit seiner fast einhunderttausendjährigen Geschichte, was ist sein Wert, rühmen aber die Schrift mit ihrer Geschichte von fünftausend Jahren. 

Diese Frage aber stellten ägyptische Philosophen vor fünftausend Jahren, wie ich es im Roman erzählt habe. Vor 2.500 Jahren, so berichtet es Platon, stellten auch die alten Griechen sie, später kamen dann Denker wie Jean Jacques Rousseau, und zahlreiche Leute problematisierten die Bedeutung und den Verlust des gesprochenen Wortes gegenüber der Schrift.

S: Ihre Bücher sind in 42 Sprachen übersetzt. Sind die Reaktionen darauf in den unterschiedlichen Sprachen verschieden? Und zuletzt, wie lange müssen wir auf ein neues Buch von Ihnen warten?

B: Ich arbeite an meinem neuen Buch, es geht gut voran. Wegen Corona werde ich es wohl früher fertigstellen. Alle Reisen und Veranstaltungen im Ausland sind bis August abgesagt. Es gibt nichts Besseres, als zu Hause zu lesen und zu schreiben.

Als ich nach den ersten Übersetzungen zu Lesungen ins Ausland reiste, war ich sehr gespannt, welche Fragen die Leser*innen in Italien oder Deutschland oder Amerika mir stellen würden. Wie würden die Menschen dort meine Bücher aufnehmen? Denn als jemand, der Kurdisch denkt, Türkisch schreibt, in der Türkei aufgewachsen und in der hiesigen Kultur sozialisiert ist, aber auch Weltliteratur liest, hatte ich erwartet, mit anderen Fragen konfrontiert zu werden, doch ich hatte mich geirrt. In Rom, Berlin oder Paris wurden genau die gleichen Fragen gestellt wie in Istanbul. Zuerst wunderte ich mich, dann wurde mir klar, wir haben es mit der Reaktion eines neuen Menschentypen auf Literatur zu tun, den wir der globale Mensch nennen. Es gibt einen globalen Leser. Der globale Leser liest überall auf der Welt ähnliche Bücher, schätzt sie ähnlich ein, hat ähnliche Gefühle, diskutiert über die gleiche Politik und träumt die gleichen Träume. Wenn unsere Enttäuschungen und unsere Hoffnungen auf morgen gleich sind, und wenn die ganze Welt aus einander ziemlich ähnlichen Konzepten gebildet wird, dann möchte ich aus meiner Perspektive sagen, dass heute überall auf der Welt die Qualität einer globalen Leserschaft entstanden ist.

S: Vielen Dank für das interessante Gespräch und Ihre stetige Unterstützung!

You may also like

More in Interview

Leave a reply